Über das Buch »Wie wollen wir leben?« von Tim Jackson
Als einer der prominenten Vordenker einer Postwachstumsgesellschaft hat Tim Jackson in seinem viel beachteten Buch »Wohlstand ohne Wachstum« aufgezeigt, wie Wohlstand in den ökologischen Grenzen möglich sein kann. Die Erkenntnisse seines Buches besprach er auch mit Regierungsvertretern in England, die aber darauf hinweisen, dass sie sich gedemütigt fühlen würden, wenn ihr Land im Vergleich mit anderen G7-Staaten ein geringeres Wirtschaftswachstum aufweisen würde.
Jackson merkte, dass die Fixierung auf das Wirtschaftswachstum weitaus tiefer reicht, als er dachte. In seinem neuen Buch widmet er sich den philosophischen und spirituellen Annahmen, die den »Mythos des Wachstums« begründen. Und er stellt die Frage, was eigentlich ein gelungenes, erfülltes, kreatives, gutes Leben ausmacht. Ist es wirklich die Anhäufung immer neuer Besitztümer, Gegenstände, Erfahrungen, wie uns eine kapitalistische Wirtschaft vermitteln will, die durch endlosen Konsum angetrieben wird?
Jackson ist nicht nur Professor für nachhaltige Entwicklung und Direktor des Centre for the Understanding of Sustainable Prosperity, sondern auch preisgekrönter Dramatiker, der mehrere Hörspiele für die BBC geschrieben hat. In seinem Schreibstil verbindet er die poetische Fähigkeit, fesselnde Geschichten zu erzählen, mit seinem Anliegen, unseren Fokus auf das Wirtschaftswachstum als Garant eines guten Lebens zu hinterfragen.
Die Wirtschaftswissenschaft ist eine Form des Geschichtenerzählens.
Die verschiedenen Kapitel durchwebt er mit Geschichten, die den Leser in ein tieferes Forschen führen. So die Geschichte der Liebesbegegnung der Biologin Lynn Margulis und des Kosmologen Carl Sagan, die beide in ihren Gebieten unser wissenschaftliches Verständnis revolutionieren sollten. Margulis zeigt in ihren Forschungen auf, dass die Evolution des Lebens nicht nur durch das Überleben des Stärkeren gekennzeichnet ist, sondern vor allem auch von Kooperation und Symbiose. Unsere Wirtschaftswissenschaften und die Organisation unserer westlichen Gesellschaften werden in ihrer Tiefenstruktur aber weiterhin von der Grundannahme der Konkurrenz und des Gewinnens gegen den anderen bestimmt. Wie würden eine Gesellschaft und eine Wirtschaft aussehen, die die Erkenntnis über die symbiotische Natur der Evolution ernst nehmen?
Jackson erzählt auch die Geschichte von Stuart Mill, einem der Gründerväter der modernen Ökonomie. Mit Anfang 20 durchlebte er eine tiefe Depression, bei der er sich fast das Leben nahm. Seine Heilung begann mit einer Passage in einem Buch des Historiker Jean-François Marmontel, in dem dieser seine tiefe Trauer über den Tod seines Vaters schilderte, was Mill zutiefst berührte. Und er lernte in dieser Zeit auch den Dichter William Wordsworth lieben. »Seine Gedichte waren wie Medizin für meinen Gemütszustand«, schreibt er. Besonders nah ging ihm das Gedicht »Innewerden der Unsterblichkeit«, das sich mit Vergänglichkeit und Ewigkeit auseinandersetzt. Und einige Zeit später lernte er seine große Liebe kennen, die Frau, mit der er sein Leben verbringen würde. Es waren also »Empathie, Transzendenz, Poesie, -Liebe«, so schreibt Jackson, die Mill zurück ins Leben brachten, und die ihm Erfahrungen des Glücks eröffneten.
Es sind diese Urerfahrungen des Menschseins, die unser Leben eigentlich lebenswert machen und die wir heute auch in unser Wirtschaften und Arbeiten bringen können. Wir können die Grundlagen unseres Wirtschaftens und Zusammenlebens verändern, so der positive Aufruf dieses Buches, den Jackson auch im evolve-Interview in unserer vergangenen Ausgabe zum »Mythos des Marktes« formulierte. Denn »wir alle sind Geschichtenerzähler … Die Wirtschaftswissenschaft ist eine Form des Geschichtenerzählens. Der Wachstumsmythos hat unsere kulturelle Erzählung für mehr als ein Jahrhundert dominiert.« Nun ist es Zeit für eine neue Geschichte, eine Geschichte der Kooperation, der Harmonie mit der lebendigen Welt, der menschlichen Kreativität, der Achtsamkeit und Liebe zum Leben. Wie könnte eine Wirtschaft aussehen, in der diese menschlichen Urbedürfnisse den Ton angeben würden? Tim Jackson zeigt überzeugend und unterhaltsam, dass solch eine neue Geschichte möglich ist und wir alle daran mitwirken können.
Author:
Mike Kauschke
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