Wie wir die Wissenschaft und den Markt erfunden haben
evolve: Die Zeit, in der wir leben, scheint uns aus der routinemäßigen Betrachtung unserer Gesellschaft wachzurütteln. Sie haben kürzlich gesagt, dass uns die Corona-Pandemie unsere soziale Vorstellungswelt bewusst macht, die von Soziologen auch als das Sozial-Imaginäre bezeichnet wird. Was meinen Sie damit?
Tomas Björkman: Vieles, was in unserer Gesellschaft in Stein gemeißelt und unveränderlich schien, hat sich plötzlich verändert. Außerdem merkten wir, dass die Welt nicht einfach aufhörte sich zu drehen, als es zum Beispiel weniger Flugreisen gab. Selbstverständlichkeiten änderten sich von einem Tag auf den anderen. Dadurch wurde uns bewusst, dass unsere menschliche Gesellschaft viel plastischer und formbarer ist, als wir denken. Auch waren einige unserer Annahmen über das Wesen des Menschen und worum es in einer menschlichen Gesellschaft geht vielleicht falsch. Diese Annahmen sind Teil unserer kollektiven Vorstellungskraft, des Kollektiv-Imaginären.
Ein Großteil unserer Gesellschaft besteht aus Vereinbarungen darüber, wie die Gesellschaft aussehen sollte, beispielsweise das Rechts- und Bildungssystem, die Organisation in Nationalstaaten oder die Nutzung von Geld. Manchmal kommt die Gesellschaft in ihrer Entwicklung an einen Punkt, an dem sich die Welt oft infolge technologischer Entwicklung so stark verändert hat, dass wir unsere Denkweise und die Organisation der Gesellschaft transformieren müssen. Der letzte tiefgreifende Wandel dieser Art in der westlichen Gesellschaft fand während der Aufklärung statt, als wir von feudalgesellschaftlichen Strukturen und einem religiös-dogmatischen Weltbild abrückten, das der Menschheit mindestens tausend Jahre lang sehr gut gedient hat. Diese vormodernen Strukturen halfen uns dabei, uns von kleinen, nomadischen Stämmen aus Jägern und Sammlern hin zum Leben in Großstädten und sogar zu Zivilisationen mit Millionen von Menschen hinzuentwickeln. Diese soziale Vorstellungswelt war für einen Großteil unserer Menschheitsgeschichte sehr nützlich. Aber dann führten Innovationen wie der Buchdruck dazu, dass die alte Weltordnung überholt war. Europa trat in ein turbulentes Zeitalter ein und unsere soziale Vorstellungswelt wandelte sich von der vormodernen, mittelalterlichen Welt zur Moderne.
Das heilige Gewölbe
e: Soziale Vorstellungswelten oder das Sozial-Imaginäre deuten also auf die kollektiven Weltsichten, die unsere Gesellschaft zusammenhalten?
TB: Die soziale Vorstellungswelt ist mehr als das. Sie umfasst alles, was sozial konstruiert ist. Wir nehmen laufend kleine Änderungen an unserem Rechts- oder Schulsystem vor, wir schaffen neue Gesetze oder neue Formen der Interaktion. Die soziale Vorstellungswelt hat aber noch tiefer liegende Schichten, derer wir uns normalerweise nicht bewusst sind. Es ist so etwas wie unsere Tiefenkultur, die aus unserem Weltbild, unserer Sprache, unseren Symbolen und unseren Mythen gebildet wird. Und diese soziale Vorstellungswelt ist formbar. Die Geschichte der Menschheit zeigt uns, wie verschiedene Kulturen in völlig verschiedenen sozialen Welten mit unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen gelebt haben. Weil die soziale Vorstellungswelt so plastisch ist, muss sie von jeder Gesellschaft irgendwo verankert werden. Dazu finden wir Grundmetaphern, die religiösen oder säkularen Mythen, in denen wir oft unbewusst als Gesellschaft leben.
Wir glauben vielleicht, dass wir ohne Mythen leben, aber wenn wir unsere soziale Realität eingehend genug untersuchen, erkennen wir, dass sie sich im Grunde immer auf eine Art Mythos stützt. Der Soziologe Peter Berger bezeichnet es als das »sacred canopy« oder heilige Gewölbe der Gesellschaft. Man kann es sich entweder als Ankerpunkt am Grunde der Kultur vorstellen oder als eine Art Gewölbe, das die äußerste Grenze der sozialen Vorstellungswelt bildet. Er nennt es »sacred canopy«, weil es keinen Standpunkt außerhalb gibt, von dem aus man dieses »Gewölbe« kritisch betrachten könnte. Man muss es einfach für wahr annehmen. Deshalb bezeichnet er es als heilig, weil diese Mythen innerhalb einer Kultur nicht hinterfragt werden dürfen. Beispiele in unserer heutigen westlichen Kultur sind unsere Mythen über »das Individuum« oder über »den Markt«.
UNSERE MENSCHLICHE GESELLSCHAFT IST VIEL PLASTISCHER UND FORMBARER, ALS WIR DENKEN.
e: In den Zeiten sozialen Wandels wie dem Übergang vom Mittelalter zur Moderne werden diese alten Mythen brüchig und neue Mythen entstehen.
TB: Manche Soziologen sagen, dass die soziale Vorstellungswelt eine »höchste Autorität« benötigt, die in jeder Kultur ihre eigene Färbung hat. In der Vormoderne galten Gott als die höchste Autorität und die Religion als heilige Ankerpunkte. Als wir von der vormodernen zur modernen Welt übergingen, wurde die Wissenschaft zum Ankerpunkt. Erst mit der postmodernen Kritik der Moderne verstanden wir allmählich, dass die Wissenschaft, genauso wie Religion oder Gott, ein menschliches Konstrukt ist. Die Wissenschaft ist ein menschliches Narrativ und daher nicht stark genug, um als Ankerpunkt für die gesamte soziale Wirklichkeit der Menschheit zu dienen.
In der postmodernen Welt, in der wir heute leben, haben wir keinen bestimmten Ankerpunkt. Es gibt in der heutigen Gesellschaft keine offizielle äußerste Autorität. Aber aus einer praktischen Perspektive könnte man sagen, dass in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren der Markt de facto als unsere höchste Autorität fungiert hat. Der Markt ist ein starker Mechanismus, der imstande ist, bestimmte Verteilungsprobleme gut zu lösen, aber wir vertrauen heute zu sehr auf den Markt. Mit der Umweltkrise, aber auch mit der Krise der Demokratie und der Corona-Pandemie beginnt dieser Mythos von der Allmacht des Marktes zu bröckeln.
Mythos Markt
e: Warum bezeichnen Sie den Markt als Mythos, man könnte ihn doch auch als eine Tatsache ansehen.
TB: Der Markt ist keine objektive Tatsache. Nationalstaaten, Präsidenten, Ehen und Geld sind keine objektive Tatsache. Wir haben uns als Kollektiv entschieden, an diese Dinge zu glauben. Wir glauben an die Institutionen der Ehe, der Präsidentschaft, des Nationalstaates und des Geldes. Aber als Individuum begegnen uns diese Institutionen wie objektive soziale Tatsachen. Die Gesellschaft insgesamt hält solche kollektiven Annahmen aufrecht. Für mich als Individuum könnte Geld in der modernen Gesellschaft genauso wichtig sein wie die Luft oder der Sauerstoff zum Atmen. Aber dass ich Sauerstoff benötige, ist eine objektive Tatsache, Geld hingegen nicht. Wenn die ganze Menschheit oder eine Mehrheit in einem Nationalstaat zusammenkäme und sagte: »Wir wollen nicht mehr von Geld abhängig sein, wir möchten ein anderes System, um die Verteilung von Gütern in der Gesellschaft zu regeln«, dann könnte Geld von heute auf morgen verschwinden. Aber wenn die ganze Menschheit sich zusammenfände und sagte: »Wir wollen nicht länger von sauberer Luft und Sauerstoff abhängig sein«, gäbe es doch nichts, was wir gegen die objektive Tatsache tun könnten, dass wir als Menschen vom Sauerstoff abhängig sind. Seltsamerweise scheinen wir manchmal das Gegenteil zu glauben. Wir denken manchmal, die Grenzen des Planeten seien verhandelbar, während wir den Marktkräften Folge leisten müssen, dabei ist es natürlich genau umgekehrt.
e: Warum bezeichnen Sie den Markt als kollektiven Mythos, warum nicht einfach als eine kollektive Vereinbarung?
TB: Weil es mehr ist als eine Vereinbarung. Es ist eine »heilige« fundamentale Vereinbarung, die zum Wohle der gesellschaftlichen Stabilität nicht einfach infrage gestellt werden sollte. Aber manchmal, in Zeiten notwendiger tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen, müssen wir sie infrage stellen. Dazu müssen wir uns unserer grundlegenden Mythen und unserer kollektiven Vorstellungswelt bewusst werden. In diesen außergewöhnlichen Zeiten müssen wir erkennen, dass wir gemeinsam Einfluss auf unsere soziale Vorstellungskraft haben. Wir müssen – und darin liegt die Herausforderung – diesen Einfluss allerdings kollektiv ausüben.
Während der letzten hundert Jahre haben wir in der westlichen Welt unsere individuelle Handlungsfähigkeit verfeinert, während unsere Handlungsfähigkeit als Kollektiv schwächer geworden ist. Und wir sehen jetzt in politischen Systemen überall auf der Welt, nicht zuletzt in den USA, wie schwierig es ist, als Kollektiv zu handeln. Um die kollektive Vorstellungswelt wirklich zu verändern, braucht es einen tiefen kollektiven Prozess, an dessen Anfang eine kollektive Sinnfindung steht. Ohne kollektive Sinnfindung und kollektive Handlungsfähigkeit werden wir in der gegenwärtigen Vorstellungswelt und ihren Folgen – dem Marktsystem und der Umweltzerstörung – stecken bleiben. Vielleicht ist es ja falsch, Präsidenten und Nationalstaaten als Mythen zu bezeichnen, aber jedes soziale System beruht auf grundlegenden Mythen, die als höchste Autorität fungieren. Wir halten sie für gegeben. Wir alle glauben an sie.
Neue Mythen?
e: Und heute sind wir in einer Situation, in der diese Mythen ins Wanken geraten sind.
TB: Grundlegende Mythen sind notwendig für eine funktionierende menschliche Gesellschaft, ganz gleich, ob wir von einem kleinen Volk von Jägern und Sammlern vor 10.000 Jahren sprechen oder der heutigen westlichen Gesellschaft oder der Gesellschaft von morgen. Wir können Mythen nicht hinter uns lassen und in eine Gesellschaft übergehen, die ohne Mythen auskommt: Die postmodernen philosophischen Erkenntnisse lehren uns, dass alle Gesellschaften auf Mythen basieren. Wenn wir nun also den Wandel in eine post-postmoderne Gesellschaft erleben, was manche eine metamoderne Gesellschaft nennen, dann sollte diese auch auf grundlegenden Mythen beruhen. Dabei sollten wir uns immer bewusst machen, dass diese Mythen menschliche Konstrukte sind. Die postmoderne Schlussfolgerung lautet, dass alle gesellschaftlichen Mythen menschliche Konstrukte und deshalb wertlos sind und wir uns in einer grundlegend nihilistischen Welt wiederfinden. Die metamoderne Schlussfolgerung könnte aber lauten, dass alle gesellschaftlichen Mythen menschlich konstruiert sind, wir sie aber benötigen, um der Gesellschaft eine Ausrichtung zu geben. Wir müssen den bestmöglichen vorläufigen Mythos finden, dem wir als Kollektiv vertrauen können. Solche Mythen geben unserer Gesellschaft nicht nur Zusammenhalt, sondern auch eine Ausrichtung.
e: Zeigt sich aus Ihrer Sicht bereits ein Kandidat für einen solchen Proto-Mythos, der uns als gemeinsame Grundlage dienen kann?
GRUNDLEGENDE MYTHEN SIND NOTWENDIG FÜR EINE FUNKTIONIERENDE MENSCHLICHE GESELLSCHAFT.
TB: Die postmodernen Denker sind berühmt oder auch berüchtigt dafür, dass sie nicht an Meta-Narrative glauben. Alle Meta-Narrative, sagen sie, seien lediglich von Menschen konstruiert. Die metamoderne Erkenntnis lautet, dass wir Geschichten brauchen, die wir leben können, aber die neuen Geschichten werden nicht gott- oder naturgegeben sein. Es werden Geschichten sein, die wir selber erschaffen und die unserer Gesellschaft Richtung und unserem Leben Sinn geben. Solche Geschichten müssen von allen Menschen und im Dialog verschiedener Kulturen ko-kreiert werden. Ein neuer Mythos könnte uns erzählen, wie wir einen kulturübergreifenden Prozess entwickeln können, um gemeinsam eine Gesellschaft zu gestalten, in der wir uns als Menschheit entfalten können.
Außerdem denke ich, dass wir als Individuen sowohl unsere emotionalen als auch unsere kognitiven Fähigkeiten erweitern müssen, um überhaupt an einem solchen ko-kreativen Prozess teilnehmen zu können. Denn es ist emotional und kognitiv viel einfacher, in einer Welt zu leben, von der du glaubst, dass sie von Gott – oder dem Markt – erschaffen wurde und deine Position darin gottgegeben ist und du das einfach akzeptieren musst. Im Kontrast dazu steht die Erkenntnis, dass ich nicht nur die Freiheit habe, in dieser Gesellschaft jede Position einzunehmen, die mir möglich ist, sondern dass wir auf einer kollektiven Reise sind, auf der wir zusammen eine neue Gesellschaft ko-kreieren. In der Moderne gilt das Ideal, dass ich frei bin, jede Position in der Gesellschaft einzunehmen, die ich möchte, und meine Fähigkeiten zu entwickeln. Aber jetzt haben wir noch dazu diese gewaltige kollektive Freiheit, diese Gesellschaft in etwas völlig anderes umzugestalten. Diese Einsicht halten zu können und dann zu versuchen, danach zu handeln und ein Mitschöpfer zu werden, verlangt einiges an innerer Kraft. Die Gesellschaft, auf die wir uns zubewegen, muss uns alle dabei unterstützen, an ihr teilzuhaben und in ihr zu leben. Es war in vielerlei Hinsicht wesentlich herausfordernder, in der Moderne zu leben, als in einer vormodernen Gesellschaft einfach seine Rolle zu akzeptieren. Genauso werden wir in der nächsten Gesellschaft zwar viel mehr individuelle und kollektive Freiheit haben, aber sie wird uns als Individuen auch viel mehr abverlangen. Mein Proto-Narrativ würde also davon handeln, wer wir gemeinsam auf der Suche nach einer Gesellschaft sind, die uns allen hilft, uns sowohl individuell als auch kollektiv zu entfalten. Und davon, dass eine solche Gesellschaft möglich ist und dass wir uns für den schöpferischen Akt ihrer Gestaltung einsetzen und ihm vertrauen.
Schöpferische Mitwirkung
e: Was Sie da als gemeinsamen Schöpfungsprozess beschreiben, enthält bereits ein mythisches Potenzial. Dieser ko-kreative Prozess kann uns ergreifen und umfasst eine soziale Erzählung, die uns leiten kann.
TB: Ja, wir sind hier, um einander zu helfen, in die Kompetenzen hineinzuwachsen, die wir für den Aufbau einer Gesellschaft brauchen, die uns selber, aber auch zukünftigen Generationen und dem Planeten dienlich ist. In diesem Prozess spiele ich, spielen wir alle eine wichtige und einzigartige Rolle. Und diese Rolle bewusst zu spielen, kann meinem Leben und dem Leben als Ganzem Sinn geben.
e: Dabei wird auch klar, dass es in gewisser Weise ein viel anspruchsvollerer Mythos ist als eine gottgegebene Ordnung oder der Automatismus des Marktes. Er verlangt unsere schöpferische Mitwirkung.
TB: Er ist auch anspruchsvoller als der moderne Mythos vom technologischen Fortschritt: Wenn wir einfach die Technologie sich entwickeln lassen, erreichen wir Utopia. Das ist ein viel simplerer Mythos, weil wir einfach mitgezogen werden. In dieser Erzählung der Ko-Kreation hingegen erkennen wir, dass wir alle eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Welt einnehmen, die wir schaffen.
Tomas Björkman in Radio evolve:
Our Myths Create Our Worlds
What Can a World in Crisis Learn from Scandinavia?