Tanz des Lebens

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Interview
Published On:

April 17, 2018

Featuring:
Kirstie Simson
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Ausgabe 18 / 2018:
|
April 2018
Was ist heute heilig?
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Ein Interview mit der Tänzerin Kirstie Simson

Kirstie Simson ist eine der Pionierinnen der Kontaktimprovisation und hat seit 35 Jahren die Möglichkeiten der Tanzimprovisation in Workshops und Performances erforscht und mitgestaltet. Die »New York Times« nannte sie eine »Force of Nature«, eine Naturgewalt, und diese unbändige Kraft, Freude und Wertschätzung der Lebendigkeit unseres Körpers vermittelt sie heute in ihren Seminaren und Auftritten. Wir sprachen mit ihr über die Intelligenz unseres Körpers, die Sprache der Bewegung und wie eine Neuentdeckung des Körpers unsere Zukunft verändern kann.

evolve: Was hat dich ursprünglich zum Tanz geführt?

Kirstie Simson: Als Kind war ich körperlich sehr begabt. Ich liebte Sport, aber ich mochte die Konkurrenz nicht. Man sagte, ich könnte ein Tennisstar werden, aber als ich in das Alter kam, wo es vor allem darum ging, jemanden zu besiegen, hatte ich buchstäblich einen Zusammenbruch und ich konnte meinen Schläger nicht mehr kontrollieren. In der Schule konnte ich nie so lernen, wie es uns beigebracht wurde, doch die körperliche Bewegung ließ mich durchhalten. Schließlich fragte mich meine Mutter, ob ich eine Tanzausbildung machen wolle.

So besuchte ich das Trintiy Laban Conservatoire of Music and Dance Center in England und durchlief das klassische Tanztraining mit Ballett, modernem Tanz und Choreographie. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass man versuchte, etwas Bestimmtes aus mir zu machen, entweder eine Balletttänzerin oder eine Graham-Tänzerin oder eine Cunningham-Tänzerin. Dagegen leistete ich immer Widerstand, weil ich nicht wollte, dass andere etwas aus mir machen. Als ich dann das College verließ, entdeckte ich die Improvisation und das veränderte mein ganzes Leben.

Die Sprache der Bewegung

e: Was hat dich in dieser Zeit am Tanz fasziniert?

KS: Von Anfang an liebte ich es vor allem, mich zu bewegen. Bewegung war meine Sprache. Zu dieser Zeit war ich sehr scheu und habe wenig gesprochen. Der Grund war auch, dass ich nicht wusste, was ich über das Leben dachte. Aber in der Bewegung, in der Sprache der Bewegung fand ich den Raum, um über mich selbst und über die Welt zu reflektieren. Erst allmählich lernte ich, es dann in Worte zu übersetzen.

Aber das Erstaunlichste passierte, als ich die Improvisation entdeckte. Ich lernte sie von meinem Mentor Steve Paxton, dem Begründer der Kontaktimprovisation. In dieser Tanzform bewegt man sich im körperlichen Kontakt mit anderen, und irgendetwas daran war einfach atemberaubend. Ich hatte den Eindruck, dass Steve so eine Art Kanal für eine kosmische Kraft war; etwas wirkte durch ihn hindurch und viele Teilnehmer in seinen Workshops machten tiefe Erfahrungen. Das geschah auch mit mir: Im zweiten Seminar bei ihm lehnte ich an einer anderen Person – weil man bei dieser Methode lernt, sich gemeinsam zu bewegen und dabei ein gemeinsames Zentrum zu teilen. Plötzlich hatte ich eine Art Erleuchtungsmoment, wo ich erkannte, dass alles, was ich jemals brauchen würde, bereits in mir vorhanden war. Vor dieser Erfahrung hatte ich immer gedacht, ich müsse lernen, um etwas oder jemand zu werden. Es war wie ein Moment des intuitiven Verstehens, dass alles bereits in mir vorhanden ist, und damit veränderte sich für mich alles. In diesem Moment erkannte ich: Mein ganzes Leben wird sich um Entdeckung drehen, ich werde mein Potenzial entdecken und freilegen, um herauszufinden, was mein einzigartiger Ausdruck des Ganzen ist; das, warum ich hier bin, und was ich weitergeben kann.

Für mich ist Tanz ein Ausdruck  der Lebenskraft und der Harmonie des Kosmos. 

e: Und diese Einsicht kam durch diese Form von gemeinsamer Bewegung mit anderen?

KS: Ja, absolut. In dieser Tanzform muss man vollkommen präsent sein, weil sie improvisiert ist. Falls jemand fällt, muss man ihn auffangen. Man ist sehr verantwortlich für das eigene Sein, aber auch für die anderen. Und daraus entsteht etwas Magisches. Und deshalb nahm ich diese Erfahrungen sehr ernst und das öffnete mir den Weg für mein ganzes Leben.

e: Danach hast du auf verschiedenen Wegen die Kontaktimprovisation und Improvisation im Allgemeinen weiter erforscht?

KS: Ja. Aber bei der Improvisation weißt du nicht wirklich, was es eigentlich ist. Ich übe und lehre seit 35 Jahren Tanzimprovisation, und ich weiß nicht wirklich, was es ist. Das ist auch der Grund, warum es mich immer noch interessiert und fasziniert. Es ist etwas, das man nicht fassen kann. Es lebt nur, wenn es geschieht. Wenn ich nicht improvisiere, weiß ich nicht, wie ich es tun könnte. Es lebt nur, wenn ich es tue.

Aber am Anfang dachte ich, dass das Potenzial der Improvisation so gewaltig ist, dass ich einige sehr einfache Prinzipien brauchte, die mich leiten könnten. Deshalb lernte ich Aikido, weil es darin diese universellen Prinzipien gibt: Halte deine Aufmerksamkeit in deinem eigenen Zentrum, dehne die Energie aus, entspanne dich, spüre den Geist deines Partners. Diese sehr einfachen Prinzipien wurden zur Grundlage für alles, was ich tat, und sie ermöglichten die Entfaltung meiner Arbeit mit der Improvisation. Gerade diese Entfaltung ist wohl auch der Grund, warum ich vermutlich nie wissen kann, was Improvisation ist, weil sie sich ständig verändert.

Lebendige Aufmerksamkeit

e: Du sagst, dass Improvisation etwas ist, was man nicht von vornherein wissen kann. Man kann es nicht planen. Es lebt allein durch die Mitwirkung in diesem Raum der Improvisation.

KS: Ehrlich gesagt ist das der Grund dafür, dass ich der Improvisation immer vertraut habe: Es ist etwas Lebendiges. Ich persönlich war nie daran interessiert, an meiner Reputation zu arbeiten. Mich hat immer die Hingabe an die Arbeit fasziniert, denn darin erlebe ich den lebendigen Moment, in dem meine Aufmerksamkeit unendlich gesteigert wird. Diese Momente haben mich alles gelehrt, sie haben mir auch gezeigt, wie ich meine eigene Geschichte und die schwierigen Erfahrungen aus meiner Vergangenheit integrieren und transformieren kann.

Diese Transformation möchte ich auch in meinen Seminaren unterstützen. Denn wenn ich mit anderen arbeite, dann nehme ich sie die ganze Zeit intensiv wahr und kann die innere Motivation der Menschen spüren. Und das ist möglich, weil ich es gelernt habe, äußerst genau zu beobachten und zu spüren, sodass Studenten, die zu mir kommen, sich gesehen fühlen; und genau das hilft ihnen, sich zu transformieren. Ich fühle die Menschen; und weil sie sich gesehen fühlen und nicht beurteilt, kann sich etwas für sie öffnen. Durch die körperliche Sprache, in der die Berührung sehr wichtig ist, werden Transformation und Entwicklung möglich.

e: Wie hat sich diese Fähigkeit für dich entwickelt, diese Form von Sensibilität und Achtsamkeit?

KS: In gewisser Weise habe ich keine Ahnung, wie sie sich entwickelt hat. Ich weiß nur, dass ich diese erste Erfahrung während meiner Ausbildung bei Steve Paxton absolut ernst nahm und weiterverfolgte. Das andere war, dass sich beim Improvisieren eine ungeheure Freude in mir ausbreitete. Und diese Freude hatte mit nichts anderem zu tun als der Tatsache, dass ich mich bewegte. Ich spürte: Oh mein Gott, diese Freude kommt nicht von irgendwo außerhalb von mir, sie kommt aus meinem eigenen Inneren. Das bedeutet, dass ich diese Freude bin.

Wenn ich tanze, teile ich alles – für mich ist es wie eine offene Explosion.

Ich erkannte, dass nicht nur ich diese Freude bin, sondern dass jeder in seiner oder ihrer Essenz Freude ist. Damals beschloss ich: Das ist wichtiger als Karriere zu machen oder erfolgreich zu sein. Dieser Freude, der Reinheit dieser Freude folge ich, und dieser Entschluss beeinflusst seitdem alle meine Entscheidungen. Es war ein zutiefst intuitives Bewegen, Zuhören und Verstehen, welche Entscheidungen diese Freude am Leben erhalten und welche sie ersticken könnten.

Meine Arbeit ist der Tanz, aber ich habe die Welt des Tanzes immer gemieden. Denn es gibt dort eine Menge Wettbewerb; die Tänzer konkurrieren um Stipendien und Auftritte. Für mich hat das nichts mit Tanz zu tun. Für mich ist Tanz ein Ausdruck der Lebenskraft und der Harmonie des Kosmos. Wenn ich tanze, kümmere ich mich nicht um mich selbst. Ich bin da, um absolut präsent zu sein mit jedem in diesem Raum. Viele Tänzer entwickeln beim Aufritt eine Art Bühnenpersönlichkeit. Das möchte ich nicht, ich möchte vollkommen frei sein. Wenn ich tanze, teile ich alles – für mich ist es wie eine offene Explosion.

Gemeinsame Freude

e: Haben sich im Laufe der Jahre deine Erfahrung und dein Verständnis von Tanz verändert?

KS: Es wird immer tiefer; und die Vermittlung von dem, was mich erfüllt, scheint stärker und wirksamer zu werden. Ich war gerade in Berlin auf der Tanz-Biennale und unterrichtete junge, gut ausgebildete Studenten, von denen viele aus dem Ballett kamen. Für mich ist die Ballettwelt ziemlich ungesund in dem, was man dort mit den Kindern macht, inklusive der Mentalität, die dahinter steht. Unter den Studenten waren auch junge Tänzer aus dem Senegal und aus Teheran und Kairo. Ich war aufgeregt, denn ich dachte, dass diese Tanzstudenten vielleicht nicht an dem interessiert sind, was ich ihnen vermitteln will. Aber es geschah etwas Wunderschönes und ich weiß nicht genau, was es war. Alle verliebten sich in das, was wir miteinander entwickelten, weil es zutiefst menschlich war, ein intimer gemeinsamer Austausch mit den Mitteln der Improvisation. Wenn sich dieser geteilte Raum öffnet, dann kann diese Freude, die ich beschrieben habe, auf alle überspringen.

Am zweiten Tag veränderte sich der ganze Raum, und ich wusste, dass wir tief darin angekommen waren. Zum Schluss der Biennale teilten wir in einem kurzen Auftritt, was wir erarbeitet hatten. Wenn Tänzer auf die Bühne gehen, geschieht es sehr oft, dass sie plötzlich jemand anders werden, das ist die Bühnenpersönlichkeit. Im Inneren erhebt sich das Ego, weil man den Druck spürt, gut aussehen zu müssen. Sobald man das tut, ist die Aufmerksamkeit aber nicht mehr bei den anderen und dem Kontext. Aber bei dieser kurzen Aufführung tat es niemand, keiner kompromittierte unsere gemeinsame Arbeit.

e: Du sagtest, dass da ein Moment kam, wo etwas die Gruppe veränderte. Wie würdest du das beschreiben?

KS: Ich bin mir nicht ganz sicher, wie es eigentlich funktioniert. Ich nehme aber wahr, dass der Moment, in dem sich alles verändert, dann kommt, wenn die Stille den Raum erfüllt. Diese Stille hat wohl etwas damit zu tun, dass jeder und jede Beteiligte vermutlich unbewusst eine bestimmte Beziehung mit dem eigenen Ego loslässt – dem Teil in uns, der immer jemand sein möchte und versucht, irgendetwas zu tun. Sie lassen plötzlich los und sofort zeigen sich diese Stille und tiefe Entspanntheit. In all den Übungen, die ich unterrichte, suche ich nach diesem Wandel.

Eine Möglichkeit für diesen Wandel ist, meine Schüler zum Lachen zu bringen. Ich bin sehr lustig, wenn ich unterrichte. Ich bringe sie zum Lachen und während sie lachen, vermittle ich ihnen einige entscheidende Informationen über sich selbst und das, was wir miteinander tun. Ich habe gemerkt, dass es beim Tanz eine Intelligenz gibt, die durch mich hindurchwirkt. Und diese Intelligenz kommuniziert mit der Intelligenz der Schüler. Ich bin nicht am Individuum interessiert, sondern an der Kommunikation zwischen meiner Intelligenz und ihrer Intelligenz. Das geschieht, wenn die Persönlichkeit zurücktreten kann. Die Persönlichkeit als bestimmender Ausdruck des Individuums kann loslassen, weil sich in den Einzelnen und im gemeinsamen Raum etwas anderes zeigt. Ich sehe nicht das Individuum, ich unterrichte den gesamten Raum, der mit der Lebendigkeit dieser Freude und Intelligenz erfüllt ist. Es wird zu einem wunderbaren Fest – einer wahren Kommunion in dieser Freude.

Teilhabe an der Lebenskraft

e: Denkst du, dass die Entwicklung der tieferen Bewusstheit unseres Körpers auch eine Relevanz für unsere Zukunft hat?

KS: Solch eine Arbeit mit dem Körper ist für unsere Zukunft sehr relevant, denn wir verbinden uns mit der Intelligenz, die sich durch unseren Körper ausdrückt. Durch die Verbundenheit mit meiner eigenen Körperintelligenz wurde ich mir meines ungetrennten Selbst bewusst. Wenn wir beginnen können, wirklich in unserem eigenen Körper zu leben, ist das eine solche Unterstützung im Leben. Wir können unsere Verkörperung vollkommen genießen, ohne sie in Ordnung bringen zu wollen; wir staunen einfach über diese atemberaubende Intelligenz, die unser Körper ist und wie er für Bewegung geschaffen wurde. Dieser Aspekt des Lebens kann so unterstützend sein, weil wir für den Rest unseres Lebens in unserem Körper sein werden. Wenn wir in irgendeiner Weise mit unserer Verkörperung kämpfen, lenkt es uns von der vollen Mitwirkung im Leben ab.

e: Du sprichst über Bewegung, aber auch über eine tiefere Sensibilität, Sinnlichkeit und Verletzlichkeit dem Leben gegenüber, die wir so intim im Körper spüren können.

KS: Ja, nachdem ich sieben oder acht Jahre Tanz geübt und gelehrt hatte, wurde mein Körper plötzlich in einer Tanzsession von einer ungeheuren Sinnlichkeit überschwemmt und ich erschrak richtig. Ich dachte, dass ich vielleicht sexbesessen sei. Ich verstand: Wenn ich mich davon zurückziehe, kann ich diesen Weg des Tanzes nicht weitergehen. Deshalb sagte ich zu mir selbst, dass ich erforschen werde, was diese Sinnlichkeit ist und bedeutet. Und wenn ich sexbesessen bin, kann ich mir immer noch Hilfe holen.

So habe ich es gemacht. Ich ließ mich vollständig von dieser Sinnlichkeit erfassen und plötzlich erkannte ich: Oh mein Gott, das ist die Lebenskraft selbst. Diese Freude der Sinnlichkeit ist überwältigend. Ich erkannte, dass wir, wie alles in der Natur, in einer zutiefst sinnlichen Welt leben. Aber die meiste Zeit nehmen wir nicht daran teil, aufgrund unserer Begrenzung, die uns durch die Religion oder unsere eigenen Ängste auferlegt wurde.

Ich habe dieses Bild einer idealen Welt in mir, wo eine tiefe Teilhabe an der Lebenskraft durch den Körper möglich ist. Es beunruhigt mich, wie wir mit Sexualität umgehen und welches Ausmaß von Missbrauch sich gerade mit der MeToo#-Bewegung zeigt, und wie sich dies auf unsere globale Kultur auswirkt. Wir fühlen uns in unserem Körper niemals sicher, deshalb müssen wir uns immer schützen. Ich habe die Ahnung einer Welt, in der all diese Knoten aufgelöst sein könnten – das Verhältnis zu unserem Körper wäre unglaublich. Es wäre eine tiefe Glückseligkeit, wenn diese Lebenskraft durch unsere Körper fließen würde. Dann wäre unsere Sexualität und alles andere auf seinem rechtmäßigen Platz und die Beziehung zu unserem Körper wäre zutiefst erfüllend. Es gäbe dann keine Verzerrungen mehr in unserer körperlichen Begegnung miteinander.

Wir wissen, dass das Universum Bewegung ist. Alles wird durch Bewegung ins Gleichgewicht gebracht. Unser Leben ist diese Bewegung, aber wir widerstehen ihr. Wir widerstehen der Veränderung. Wir leisten Widerstand, weil wir uns mit den Strukturen des Egos identifizieren. Man hat uns beigebracht, dass wir so leben, dass wir uns immer mehr verfestigen, insbesondere wenn wir älter werden. Doch dann beginnen wir zu sterben, wir werden zu dem, was ich die »lebenden Toten« nenne. Wir schneiden uns von der Lebenskraft ab, die eine endlose, wunderbare, freudige Bewegung ist.

Author:
Mike Kauschke
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