Die Krise als Freund

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 21, 2016

Featuring:
Stephan Schwartz
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Issue:
Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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In heilender Gemeinschaft

Menschen in persönlichen Krisen, die durch spirituelle Erfahrungen ausgelöst werden, stoßen in der herkömmlichen Psychologie und Psychiatrie oft auf Unverständnis. Das Projekt Krisenfreunde will ihnen einen Ort geben, wo sich das heilende Potenzial solcher Krisen entfalten kann. Wir sprachen mit Stephan Schwartz, einem Mitbegründer des Projekts, über eine neue Sicht auf Krisen.

evolve: Wie ist das Projekt »Krisenfreunde« entstanden?

Stephan Schwartz: Entstanden ist das Projekt durch eine persönliche Erfahrung, die meine Partnerin Ingrid gemacht hat. Sie ist selbst durch einen intensiven Prozess der spirituellen Öffnung gegangen, bzw. ist immer noch in diesem Prozess, der wohl auch nie ganz abgeschlossen sein wird.

Wir kennen solche Erfahrungen aus den Schriften der Mystiker und Mystikerinnen wie Hildegard von Bingen, Theresa von Avila und vor allem Johannes vom Kreuz, der über die dunkle Nacht der Seele geschrieben hat. Aus ihren Erfahrungsberichten sehen wir, dass solche Prozesse nicht neu sind, sondern sich schon immer gezeigt haben, vor allem bei Frauen, die scheinbar körperlich stärker auf Dinge reagieren, die sich in ihrem seelischen, geistigen Entwicklungsprozess vollziehen. Bei Ingrid war es ein Toning, eine Art Gesangsmeditation.

Dabei erlebte sie eine strömende innere Kraft, eine klare Weite des Geistes und tiefen Frieden. Zwei Tage nach dieser Erfahrung wurde sie von Schwindel- und Ohnmachtsgefühlen überrascht und schließlich mit Herzinfarktsymptomen ins Krankenhaus gebracht. Ingrid wurde kardiologisch untersucht, ohne dass man etwas finden konnte. In der Folge traten noch andere körperliche Phänomene auf, wie Herzrasen, unwillkürliche energetische Zuckungen oder auch eine Auflösung der Körpergrenzen. Solche starken körperlichen und psychischen Phänomene wechselten immer wieder mit tiefen spirituellen Erfahrungen strömenden Lichtes und vollkommenen Glücks.

Am Anfang waren wir natürlich verunsichert und wussten nicht, was hier geschieht. Die Ärzte nutzen ihre schulmedizinischen Möglichkeiten, ohne eine Ursache zu finden. Wir haben uns dann in die Thematik spiritueller Krisen eingearbeitet und Menschen besucht, die andere in solchen Situationen begleiten, wie das Spiritual Emergency Network, das von Stanislav Grof gegründet wurde und in Deutschland von Pieter Loomans geleitet wird. Aus diesem Prozess heraus entstand die Vision, einen Ort zu schaffen, wo Menschen mit solchen Erfahrungen sein können. Denn wir fanden heraus, dass es für solche spirituellen Krisen keine Therapie im herkömmlichen Sinne gibt. Das Entscheidende ist, dass diese Prozesse angenommen werden und da sein dürfen. Viele der Menschen, die zu uns kommen, haben schon Erfahrungen mit Psychiatrie und Medikamenten gemacht. Solche spirituell induzierten Erfahrungen werden schnell als Symptome einer Schizophrenie, Psychose oder Borderline-Krankheit gesehen. Hier muss man natürlich genau unterscheiden, denn wir haben auch schon Menschen bei uns gehabt, bei denen wir gesehen haben, dass eine andere Begleitung notwendig ist.

¬ WIR SEHEN UNS ALS EINE TRANSPERSONALE, SPIRITUELLE WACHSTUMSGEMEINSCHAFT. ¬

e: Wie lebt ihr mit den Menschen zusammen?

StS: In einer Ausgabe von evolve habt ihr den Biologen Andreas Weber zitiert, der sagt: »Nur im Spiegel anderen Lebens können wir uns selbst verstehen.« Das ist eigentlich die Essenz unseres Zusammenlebens. Wir sind eine Gemeinschaft mit sechs Menschen, die hier permanent leben und aktiv Teil unseres Projekts Krisenfreunde sind. Hinzu kommen die Mitbewohner auf Zeit. Sie bleiben in der Regel einige Wochen bei uns, bis zu drei Monaten, und die Gemeinschaftsmitglieder bis zu drei Jahren.

Im Gegensatz zu vielen spirituellen Angeboten für Workshops oder Therapien geht es bei uns um den gemeinsam gelebten Alltag. Das heißt, die Menschen können hier mit allem, was in ihnen vorgeht, da sein. Dabei sehen wir uns als eine transpersonale, spirituelle Wachstumsgemeinschaft. Dazu gehören auch bestimmte Elemente wie die Achtsamkeitspraxis, transparente Kommunikation und ein bewusster Umgang mit Konflikten.

Wir haben eine feste Tagesstruktur, wobei wir uns jeden Tag außer sonntags morgens um 9.30 Uhr zu einem Morgenkreis treffen, bei dem wir miteinander teilen, was in jedem vorgeht. Vorher ist Stille im Haus und es gibt Möglichkeiten zur gemeinsamen Meditation. Nach dem Morgenkreis arbeiten wir gemeinsam im Haus, wir nennen das »Put-Zen«. Wir essen dann zusammen zu Mittag und die Nachmittage können frei gestaltet werden. Am Abend gibt es manchmal verschiedene Angebote aus der Gemeinschaft, oder wir treffen uns einfach am Kamin. Einmal in der Woche machen wir einen »Präsenzabend« wo es um eine tiefere Wahrnehmung dessen geht, was sich gerade in uns zeigt. Wir nehmen aber auch Anregungen von den Menschen auf, die bei uns sind, wodurch sich ein flexibler Prozess des Zusammenlebens ergibt.

e: Welche Erfahrungen machen die Menschen, die zu euch kommen?

StS: Sie kommen auf ihre ganz persönliche Weise wieder zu sich selbst. Letzten Sommer hatten wir beispielsweise eine Besucherin, für die Spiritualität ein Weg war, Schwierigkeiten loswerden zu wollen. In unseren Gesprächen ist ihr diese Vermeidungsstrategie bewusst geworden und sie entwickelte über die Zeit ein Gefühl der Erdung, ohne ihrem Schmerz ausweichen zu müssen. Für manche Menschen sind die Unvoreingenommenheit und Akzeptanz, die unser Zusammenleben prägen, der Schlüssel dafür, ihren Gefühlen und ihrer Intuition wieder zu vertrauen. Und sie erleben, dass man, selbst wenn man in konkreten Fragen uneinig ist, trotzdem miteinander in Beziehung bleiben kann. Damit verbunden ist häufig ein Gefühl tiefer Entspannung, weil sie mit dem Prozess, in dem sie gerade sind, bei uns angenommen werden. Und sie bekommen Möglichkeiten, im transparenten Gespräch ihre Erfahrungen mit den anderen zu teilen, und vor allem die Gefühle, die aufkommen, da sein zu lassen und zu fühlen – und durch die gedachte Angst vor der Angst »durchzutauchen«.

e: In eurer Gemeinschaft setzt ihr also nicht darauf, dass es einen Therapeuten gibt, der die Krise eines Menschen verstehen und Schritte zur Heilung aufzeigen kann, sondern das Heilende kommt aus der gemeinsam gelebten Menschlichkeit.

StS: Ja! Therapeutische Prozesse finden natürlich statt, aus jedem selbst heraus, aber sie stehen nicht so im Fokus. Und Ingrid kann viele Menschen einfach durch die Fülle ihrer Erfahrung in krisenhaften Situationen begleiten. Aber das Entscheidende ist das »Heilungsbiotop«, das heilende Feld, das wir zusammen als Gemeinschaft kreieren. Dieses Feld verändert sich auch immer wieder mit den Menschen, die hier sind. Manchmal ist es lebendiger und quirliger, manchmal eher meditativ und ruhiger.

Heilung kommt für viele aus der Erkenntnis, dass die individuellen Prozesse, die Einzelne erleben, auf eine übergreifende menschliche Erfahrung hinweisen. Deshalb sprechen wir oft von transpersonalen Krisen, weil es Phänomene sind, die das Persönliche übersteigen. Man könnte sagen, dass uns in solchen Erfahrungen Gott, um hier dieses Wort zu benutzen, auf eine neue Bewusstseinsebene ruft. Jeder Mensch spürt diesen Ruf anders und manchmal eben auch auf eine intensive körperliche Weise, wie es Ingrid und viele der Menschen, die zu uns kommen, erlebt haben. Aus dieser Haltung erleben wir die Krisen als Freund und bejahen sie, damit sich dieser Prozess des Erwachens und Wandels entfalten kann.

Author:
evolve
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